Gerda Lerner, die Doyenne der Frauengeschichte, Feministin und Historikerin, geboren 1920 in Wien, starb am 2. Jänner 2013 92jährig in Madison, Wisconson/USA, wie die New York Times berichteten. Lerner, die 1939 als Jüdin vor den Nazis in die USA floh, hat vor allem mit ihren beiden Büchern “Die Entstehung des Patriarchats” und “Die Entstehung des feministischen Bewusstseins” (1986 und 1995) zur historisch-feministischen Debatte, zur Grundlagenarbeit über Patriarchat und insgesamt zentral zur wissenschaftliche Anerkennung und Institutionalisierung der Frauengeschichtsschreibung beigetragen. ‘Eigentlich hatte “die Pionierin auf dem Gebiet der historischen Frauenforschung” (New York Times) eine “allgemeine Theorie über die Frau in der Geschichte” verfassen wollen. Dann aber vertiefte sie sich in Zeugnisse aus dem Zweistromland, dem alten Mesopotamien (und heutigen Irak) und entdeckte Unerhörtes: nämlich “Die Entstehung des Patriarchats”, schrieb die EMMA 1992 zur Veröffentlichung des Bandes.
‘Ein Sachverhalt, der als soziales Problem gilt, kann zum Gegenstand der politischen Debatte werden und im politischen Kampf eine Rolle spielen. Eine Problematik, die wegdefiniert ist, wird in der politischen Auseinandersetzung stillschweigend übergangen. Diese letzte Konsequenz der Definitionsmacht der Männer – nämlich die Macht zu bestimmen, was ein Gegenstand der Politik ist und was nicht – hatte tiefreichende Auswirkungen auf den Kampf der Frauen um ihre eigene Emanzipation. Ganz wesentlich hat diese Macht der Männer denkende Frauen gezwungen, viel Zeit und Energie auf eine defensive Argumentation zu verschwenden; sie hat das Denken dieser Frauen in enge Bahnen kanalisiert, sie hat das Entstehen eines Gruppenbewußtseins verzögert, und sie hat die intellektuellen Fähigkeiten der jahrhundertelang von Bildung abgeschnittenen Frauen zerstört oder doch verkümmern lassen. (…)
Ihre systematische Benachteiligung im Bildungswesen hat die Selbstwahrnehmung von Frauen sehr stark beeinflußt und sich auf ihre Fähigkeit ausgewirkt, die eigene Situation zu begreifen und sich vorzustellen, wie diese Situation durch gesellschaftliche Veränderungen verbessern ließe. Dies hatte Folgen nicht nur für die individuelle Situation der Frauen, sondern hat, und das ist weit folgenschwerer, auch die Beziehung der Frauen zum Denken und zur Geschichte auf ganz bestimmte Art geprägt. Sehr viel länger als jede andere gesellschaftliche Gruppierung haben Frauen im Zustand der antrainierten Ignoranz gelebt, entfremdet von ihrer kollektiven Erfahrung durch die Verleugnung der Existenz einer Frauengeschichte.’ (aus: ‘Die Entstehung des feministischen Bewusstseins. Vom Mittelalter bis zur Ersten Frauenbewegung.’ 25f)
In ihren Schriften über Frauen und Geschichte macht Gerda Lerner deutlich, wie sehr Frauenemanzipation mit der genauen Kenntnis der Frauengeschichte verbunden ist.
2009 stellte Gerda Lerner in Österreich ihre politische Biographie ‘Feuerkraut’ vor. Der Standard berichete. Im Rahmen der Buchpräsentation in Graz, am 4. Juni 2009, veranstaltet vom Institut für Zeitgeschichte und dem Centrum für jüdische Studien, hat Gerda Lerner Passagen aus “Feuerkraut” gelesen. Auf Cultural Broadcasting Archive ist die Lesung nachzuhören.
In Österreich erhielt sie 2007 den Bruno-Kreisky-Preis für ihr Lebenswerk und 2012 den Frauen-Lebenswerk-Preis der Frauenministerin.
“Nur eine Geschichte, die von dieser Einsicht ausgeht, die sich gleichermaßen mit Männern und Frauen befaßt und die sowohl der Errichtung als auch der Vergänglichkeit des Patriarchats nachgeht, kann für sich in Anspruch nehmen, im eigentlichen Wortsinn eine universale Geschichte zu sein”, so Gerda Lerner. Die “Godmother of women’s history”, wie die New York Times sie einmal nannten, ist tot, aber ihre Bücher und ihre Schriften bleiben uns und bleiben wesentlich.